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Aktuelles

06.03.2022 | Hintergrund

Braucht unsere Landes- und Bündnisverteidigung die geplanten Militärausgaben?

Lothar Binding, Friedhelm Hilgers

Die AG SPD 60 plus steht auf der Seite derjenigen Kräfte – von der Friedensbewegung bis zur Generalversammlung der Vereinten Nationen und unserer Regierung – die den Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine auf das Schärfste verurteilen.

Wir fordern einen sofortigen Waffenstillstand, den Rückzug russischer Truppen aus den überfallenen Gebieten der Ukraine und darüber hinaus eine Wiedereröffnung des internationalen diplomatischen Diskurses, der nicht nur eine weitere Eskalation vermeidet, sondern auf die langfristige Entwicklung einer europäischen Friedens- und Sicherheitsstruktur zielt.

Olaf Scholz hat in seiner großen Rede am 27. Februar 2022 von einer „Zeitenwende“ gesprochen. Und seine Politik war, wie die Parlamentarische Linke im Bundestag schreibt: „richtig, bis zum letzten Moment alles zu versuchen, um auf diplomatischem Wege eine Lösung zu erreichen.“ Putins Krieg, den auch viele russische Bürgerinnen und Bürger ablehnen, hat die Welt in einen Ausnahmezustand versetzt und es wäre nicht auszuhalten, Ukraine nun im Stich zu lassen. Die Ukraine, das sind Kinder, Ältere, Familien, Frauen, Mütter, Väter, Soldaten, die um ihr Leben bangen. Und so ist es richtig, diesen Menschen, die mental unendlich stark, aber militärisch hoffnungslos unterlegen sind, Luftabwehrraketen und Gerät zu ihrer Verteidigung zu liefern, auch wenn dies sozialdemokratische Grundsätze – keine Waffenlieferung in Krisengebiete – verletzt. Wir sind im Ausnahmezustand.

Gleichwohl müssen die Kernbestandteile sozialdemokratischer Identität unbeschädigt bleiben und der Start in eine Aufrüstungsspirale mit unabsehbaren weltweiten Folgen kann nicht die Antwort sein.

Im Moment helfen ritualisierte Solidaritätsbekundungen wenig – im Moment kommt es darauf an, unmittelbar praktische und überlebensnotwendige Hilfe für die bedrohten Menschen in der Ukraine zu organisieren. Nicht alle können Sammelstellen für Sachspenden einrichten – aber wir alle können Medikamente, Lebensmittel und Geld spenden. Und wir können Flüchtende aufnehmen, ganz privat aber auch in öffentlichen Einrichtungen auf der Grundlage politischer Beschlüsse. Hier gehen viele Politiker mit gutem Beispiel voran.

So verständlich und richtig die Lieferung von Verteidigungswaffen in die Ukraine ist, so falsch ist es, sich auf einen Militärhaushalt von jährlich "mehr als 2%" des BIP festzulegen. Die Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung zu befähigen ist ein Ziel, „mehr als 2%“ des BIP auszugeben ist kein Ziel und wird von einer großen Anzahl unterschiedlicher SPD-Gliederungen, beispielweise auch dem auch dem Landesverband der SPD Nordrhein-Westfalen und verschiedenen SPD-Arbeitsgemeinschaften abgelehnt. Die humanitäre Hilfe Deutschlands verstärkt fortzusetzen, wird vehement unterstützt.

Über 700 Milliarden Euro betrugen die Militärausgaben des Bundes seit 2005. Auslandseinsätze sind teuer. Aber der größte Einsatz war die militärische Beteiligung der Bundeswehr an der Stabilisierung Afghanistans durch die Operation Enduring Freedom und den ISAF-Einsatz mit zeitweise über 5.000 Soldaten. Bei allen anderen Missionen (KFOR, Atalanta, UNMISS …) lag die Zahl der beteiligten deutschen Soldaten jedoch höchstens im dreistelligen oft im zwei- und manchmal nur einstelligen Bereich.

Einsätze sind teuer – aber mit 700 Milliarden Euro könnte die Bundeswehr heute gleichwohl sehr gut ausgerüstet und die Soldaten sehr gut ausgebildet sein. Ausrüstung und Personal hätten optimal zum Einsatz kommen können, um die Landes- und Bündnisverteidigung zu ermöglichen. Die Verteidigungsministerinnen und Verteidigungsminister seit 2005 – zur Erinnerung: Franz Josef Jung, Karl-Theodor zu Guttenberg, Thomas de Maizière, Ursula von der Leyen, Annegret Kramp-Karrenbauer – müssen sich fragen lassen, warum die Bundeswehr und ihre Ausrüstung heute in einem solch beklagenswerten Zustand sind, dass sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe nicht in der Lage ist. Diese Fragen müssen wir auch den oberen Dienstgraden, den Generälen und Stabsoffizieren, sowie den Verantwortlichen für das Beschaffungswesen und die Ausbildung stellen.

Der Blick zurück hilft jedoch nicht viel – oder doch? Wir können erkennen, dass sich die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr nicht allein durch weitere Militärausgaben verbessern lässt. Denn was mit 700 Milliarden nicht funktioniert hat, muss auch mit zusätzlichen 100 Milliarden Euro nicht funktionieren. Der militärisch-industrielle Komplex hat die Bundeswehr bzw. den Wehretat über Jahre ausgesaugt: Flugzeuge, deren Einsatzfähigkeit auf wackeligen Füßen steht, Gewehre, die bei Gebrauch ihre Treffsicherheit verlieren, Schützenpanzer, deren Mängellisten länger waren als die Betriebsanleitungen, Hubschrauber, deren Flugfähigkeit dem Zufallsprinzip folgt. Die Ministerriege hat durchgewunken oder das Beschaffungswesen hyperbürokratisiert.

Wir können froh sein, dass Kanzler Olaf Scholz und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht die Bundeswehr strukturell neu aufstellen – in Richtung Landes- und Bündnisverteidigung. Die Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung wurden seit Guttenberg zugunsten der Auslandseinsätze stark vernachlässigt. Dies war eine Folge der Entscheidung und keine Frage des Geldes. Deshalb ist die Reihenfolge wichtig: zunächst die innere Struktur, die Arbeits- und Ablaufprozesse funktionsfähig machen, dann die Betriebsbereitschaft der vorhandenen Ausrüstung durch Instandsetzung herstellen und in einem dritten Schritt alte durch neue Ausrüstung ersetzen und fehlende Fähigkeiten ergänzen.

Die Fähigkeiten der Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung herzustellen – das ist unser Ziel. Das sogenannte „2 Prozentziel“ ist kein Ziel. Solche Ziele haben Manager: Umsatzziele, Gewinnziele, Kursziele an der Börse – gleichgültig mit welchem Produkt. Solche Ziele führen zu absurden Militärausgaben, die klüger in Bildung, Armutsbekämpfung die sozial-ökologische Transformation oder in Digitalisierung investiert würden.

Ein Vergleich zeigt, wohin solche Geld-Ausgabe-Ziele führen: Die Militärausgaben im Jahr 2020 betrugen in den USA 770 Milliarden US-Dollar, in China 250 Milliarden US-Dollar, in Russland über 60 Milliarden US-Dollar, in Deutschland, Frankreich Japan jeweils etwa 50 Milliarden US-Dollar – trotzdem es gibt einen militärischen Angriffskrieg Putins mit dem Geld russischer Bürgerinnen und Bürger gegen die Ukraine. Und die Welt kann trotz der gigantischen Militärausgaben nicht genug tun, um alle Menschen zu retten und den Krieg zu beenden – wenn sie eine noch größere Katastrophe vermeiden helfen will. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn alle Länder, die Putins Krieg verurteilen, in der Vergangenheit fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Rüstungsgüter investiert hätten. Deshalb gilt es die Zwei-Prozent Ziele der Militärs in der NATO zu überdenken.

Wir haben es nicht in der Hand, den Ausnahmezustand durch Putins Krieg zu beenden. Aber gezielte wirtschaftliche Sanktionen gegen die Günstlinge von Putin, Geld und Warenströme von und nach Russland abzuschneiden, können den Krieg verkürzen. Auch der Zusammenhalt vieler Völker, die den Überfall auf die Ukraine ablehnen und die großen Demonstrationen, nicht nur in Deutschland, zeigen, wie sehr Putin isoliert ist und außer Aggression gegen militärisch Schwächere keine Perspektive hat.

Gerade deshalb darf unsere Politik im Ausnahmezustand, eine Politik unter Schock, nicht unsere Politik der Zukunft vor-festlegen. Der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP zeigt den Weg, auch wenn er in einer Zeit vor dem Putinkrieg vereinbart wurde: „Wir brauchen eine abrüstungspolitische Offensive und wollen eine führende Rolle bei der Stärkung internationaler Abrüstungsinitiativen und Nichtverbreitungsregimes einnehmen,“ Schon deshalb ist das geplante Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro kein Freibrief für künftige Aufrüstung. Vielleicht wird dieses Geld benötigt, um die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung der Bundeswehr wieder herzustellen. Vielleicht genügen aber auch viel weniger Mittel, als in einer Ausnahmesituation überlegt. Gleichwohl ist es gut, sich Entscheidungsmöglichkeiten für die Zukunft offen zu halten. Dabei gilt es auch, sich nicht dem Verdacht auszusetzen, die Mittel für Militärausgaben seien konkret verfügbar, die ebenso wichtigen Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit seine es nur verbal. Es lohnt sich darüber nachzudenken, das Sondervermögen, also zusätzliche Kreditaufnahme, auch für die abrüstungspolitische Offensive aus dem Koalitionsvertrag einzusetzen.

Wir treten wie auch der DGB nach wie vor für einen allgemeine und weltweite kontrollierte Abrüstung und für die Verwirklichung und Erhaltung des Friedens und der Freiheit im Geiste der Völkerverständigung ein.